Spaghettifresser
Frau
Sulzbacher hatte in der großen Pause die Aufsicht auf dem Schulhof. Aus
der Ecke am Toilettengebäude schallte es im Chor: »Spaghettifresser
Tonio hat Wanzen, Läuse und ‘nen Floh.«
Sie
lief auf die Kinder zu, die in einer Traube um Tonio Zuccarelli
herumstanden und ihn in die Ecke gedrängt hatten. Tonio hatte die Fäuste
in die Hosentaschen gesteckt, die Schultern hochgezogen und starrte
auf den Boden. Er war einen Kopf größer als die anderen Kinder der 3.
Klasse.
»Spaghettifresser«, stimmte Kalle Blum erneut laut den Spottvers an.
»Schluss
jetzt!«, rief Frau Sulzbacher und drängte die Kinder auseinander. »Es
ist sehr hässlich von euch«, tadelte sie die Klasse, »den Tonio immer
wieder zu ärgern.«
»Es macht Spaß, wenn er wütend wird«, sagte Kalle Blum.
»Dann sieht er aus wie mein Hund, wenn er eine Katze riecht«, rief Sylvia.
»Still jetzt. Kein Mensch sieht aus wie ein Hund.«
»Doch«, widersprach Sylvia, »wenn Tonio die Wut kriegt, dann sieht er aus wie unser Hund.«
»Genauso sieht er aus!«, bestätigte Kalle Blum, obwohl er Sylvias Hund noch nie gesehen hatte.
Kalle
hatte Wut auf Tonio. Bevor »der Itaker« in die Klasse gekommen war,
war Kalle der Stärkste gewesen. Tonio war stärker. Und Papa Blum sagte
es auch: »Die Spaghettis« nehmen uns hier die Arbeitsplätze weg. Warum
musste Frau Sulzbacher den Itaker ausgerechnet an Kalles Tisch setzen?
Papa hatte auch gesagt: »Die Ausländer, die sollten sie in die
deutschen Klassen erst gar nicht reinlassen.«
Nach
der Pause machte Frau Sulzbacher einen Vorschlag. »Weil Adventzeit
ist, wollen wir ein schönes Spiel machen«, sagte sie. »Ich habe auf
kleine Zettelchen die Namen aller Kinder in der Klasse aufgeschrieben.
Jeder darf ein Namenszettelchen ziehen. Keiner soll verraten, welchen
Namen er gezogen hat.«
»Zu niemand darf man das sagen?« fragte Sylvia.
»Zu niemand. Denn ihr könnt für das Kind, dessen Namen ihr gezogen habt, ein Wichtel sein!«
»Wichtel? Blöd! Was ist das denn?«, schrien die Kinder durcheinander.
»Ich
habe den Namen und das Spiel nicht erfunden«, sagte Frau Sulzbacher.
»Aber ich kann euch erklären, was es bedeuten soll. Für jeden Tag soll
ein Wichtel überlegen, wie er dem anderen eine Überraschung bereiten
kann. Alles muss ganz heimlich geschehen. Niemand darf sagen, wem er in
der Adventszeit kleine Freuden machen will.«
»Quatsch«, sagte Kalle, »Wichtelei, so ‘n Quatsch.«
»Kein Quatsch«, widersprach Frau Sulzbacher. »Freude wird doppelt schön, wenn man sie weitergibt.«
»Und wenn ich den Namen von dem da ziehe? Soll ich dem etwa jeden Tag etwas zustecken?« Kalle zeigte dabei auf Tonio.
»Das wäre für den Kalle ganz gut«, dachte Frau Sulzbacher.
Aber Kalle zog nicht Tonios Zettel. Auf seinem Blatt stand Michael.
Am
ersten Tag fand Kalle in seiner Anoraktasche ein Zimtplätzchen. Wer
wusste, dass er Zimtplätzchen am liebsten aß? War es sein Freund
Hannes, der ihn beschenkte?
Am
zweiten Tag entdeckte er in seinem Etui ein Sammelbildchen von dem
Hansi Müller. Genau dieser Fußballer fehlte ihm. Der Wichtel musste ihn
genau kennen. Wer war es?
An
den folgenden Tagen bekam er lauter Kleinigkeiten, die er schon lange
haben wollte: einen Bleistiftspitzer in einer kleinen Weltkugel, einen
riesigen Kaugummi, eine winzige Glaskugel, einen Angelhaken und einmal
sogar etwas, worüber die ganze Klasse staunte. Kalle hatte arglos in
seine Tasche gefasst und war erschreckt zurückgefahren. In der Tasche
bewegte sich etwas. Vorsichtig zog er ein kleines braunes Knäuel heraus,
das sich als junger Goldhamster entpuppte.
Jetzt
konnte Kalle es vielleicht herausbekommen, wer ihn beschenkte. Wer
hatte zu Hause Goldhamster? Aber so sehr er auch forschte, er kam nicht
weiter. Hannes besaß zwar einen Goldhamster, aber wer hat schon gehört,
dass ein Hamsterbock Junge bekommt?
Am
allerletzten Schultag vor den Weihnachtsferien ahnten die meisten
Schüler, wer ihr Wichtel gewesen war. Es war eine schöne Zeit des
Ratens und der Überraschungen gewesen. Nur Kalle hatte immer noch keinen
Schimmer, wer ihn beschenkt hatte. Da fand er nach der großen Pause
einen herrlichen Satz italienischer Briefmarken in seinem Schreibheft.
Briefmarken? Italienische? Kalle blickte zweifelnd zu Tonio hinüber. Der
schaute ihn ängstlich an.
»Du, Spaghettifr« Kalle schluckte. »Du warst das, Tonio?«
Tonio nickte.
»Mensch!« sagte Kalle. Er kam sich gemein vor. »Danke«, sagte er.
»War schön«, antwortete Tonio.
Am
Heiligen Abend brachte der Briefträger eine riesengroße Weihnachtskarte
für Schüler Tonio Zuccarelli. »Lieber Tonio! Fröhliche Weihnachten
wünscht dir von Herzen Kalle«, stand darauf.
Tonio heftete die Karte mit einer Nadel an die Tapete über seinem Bett.
Willi Fährmann